Bullinger und Röthlein greifen in ihrem Werk den Status quo auf und orientieren sich an den derzeit wahrscheinlichen Entwicklungsperspektiven. Anhand dieser Prognosen entwickeln die Autoren Modelle, mit denen die künftigen Herausforderungen beherrschbar bleiben.

Bevölkerungsentwicklung

Das Problem der Menschheit in den kommenden Jahrzehnten und gewiss eines der treibenden Motive für dieses Buch ist die Entwicklung der Bevölkerungsstruktur. Diese ist vielschichtig, denn zunächst einmal steigt die Zahl der Menschen, die diesen Planeten bewohnen, insgesamt sprunghaft an. Das liegt allerdings nicht allein an den medizinischen Fortschritten und auch nicht allein daran, dass die Menschen im Durchschnitt ein höheres Lebensalter erreichen werden, sondern vor allem an der enorm schnellen Bevölkerungsexpansion in den Schwellenländern, wie in Indien und China. In den beiden asiatischen Staaten leben bereits heute fast ein Drittel aller Menschen der Welt.

In diesen Staaten wird das zu erwartende Problem besonders deutlich sichtbar, denn der größte Teil der Bevölkerung in den Schwellenländern lebt in extremer Armut, die im Kontrast zum Reichtum in den neuen Wirtschaftsmetropolen steht. Es zieht die Menschen nahezu fluchtartig in die schnell boomenden Megastädte, um die Chance auf einen kleinen Wohlstand zu erlangen.

Diese Probleme gibt es aber nicht allein in den Schwellenländern, sondern auch in Europa. Arbeitsplätze werden in den ländlichen Regionen knapp und gute Schulen der Sekundarstufe sind fast nur noch in Städten oder in den Ballungsräumen zu finden. Auch das alltägliche Leben zwingt beinahe zur Landflucht. So kauft man nicht mehr bei „Tante Emma“ ein, sondern fährt zum Großeinkauf in die Shopping-Zentren und Supermärkte.

Überalterung ist ein weiterer Aspekt, der insbesondere die Industriestaaten betrifft. Seniorengerechtes Wohnen und die Pflege alter und kranker Menschen werden immer wichtigere Themen der Stadtplaner.

Die Gründe für eine zunehmende Urbanisierung sind also sehr vielseitig und führen insgesamt zu den gleichen Herausforderungen für die Planer und die Bewohner der Metropolen.

Bullinger/Röthlein: Morgenstadt
Bullinger/Röthlein: Morgenstadt

Thematisches Spektrum

Die Autoren denken voraus und dokumentieren dies auch in Ihrem Werk. Ihre „Morgenstadt“ – die Stadt der Zukunft – ist in Europa nicht unbedingt ein synthetisches, neu geschaffenes Gebilde, sondern in der Regel eine über Jahrhunderte gewachsene Struktur. Anders sieht es bei den auf der „grünen Wiese“ oder meist in der Wüste neu gebauten Megacitys aus. Bei diesen Städten kann man vieles im Vorfeld bedenken und planerisch sowie baulich lösen. Es stellen sich aber andere – gesellschaftliche – Herausforderungen. So berücksichtigen die Autoren durchaus, dass in einer völlig neu konzipierten Stadt Infrastrukturen, Verkehrswege und die Energieversorgung bedarfsgerecht geplant werden können, während in bestehenden Metropolen bereits in diesen Bereichen gravierende Kompromisse eingegangen werden müssen. Auf der anderen Seite erkennen die Autoren auch die positiven Potenziale einer gewachsenen Gesellschaft, die es gelernt hat, mit ihrer Stadt zu leben und sich in ihrer Stadt einzurichten.

Die Wege, die eine Metropole auf dem Weg zu einer „Morgenstadt“ einschlagen muss, sind also sehr individuell. Dies behalten die Autoren stets im Blick, auch wenn sie in den einzelnen Kapiteln jeweils eine Herausforderung bei der Gestaltung der Morgenstadt im Detail beschreiben. Ganz gleich, ob das Thema Energie, Mobilität, Ver- und Entsorgung etc. lautet: Stets haben die Autoren den zwingenden Gedanken der Nachhaltigkeit fest im Blickfeld. Auch scheuen sich die Autoren nicht, darauf hinzuweisen, dass alle Bereiche konstruktiv ineinander greifen müssen.

Das Buch spricht natürlich nicht nur den Stadtplaner an. Fast noch wichtiger ist es für die Menschen, die in Städten leben und in Zukunft auch Teil der „Morgenstadt“ beheimatet sein werden. Sie erfahren, wie sich ihr Leben entwickeln könnte und auch, wie sie in ihrer jeweiligen beruflichen oder gesellschaftlichen Disziplin Anteil an der Gestaltung der Morgenstadt nehmen können.

Utopie, Horror oder Wunschtraum?

Ingenieure, Architekten, Stadtplaner und auch die Wirtschaft insgesamt, werden ihre Freude an den postulierten Entwicklungen hin zur beschriebenen Morgenstadt haben, doch wie wird es um die Menschen bestellt sein, die in ihr leben und arbeiten müssen? – Die Autoren werden nicht müde, vor „Geisterstädten“ zu warnen. Gemeint sind nicht die verlassenen Städte des wilden Westens, sondern zweckgebundene Viertel, in denen nur gelebt oder nur gearbeitet wird. Als erstrebenswertes Beispiel führen sie die historisch gewachsenen Piazzas in Städten Italiens an, wo Tag und Nacht das Leben blüht, gelebt und gearbeitet wird. So wird sozialer Isolationen und Ghettoisierung entgegen gewirkt.

Wer die Morgenstadt aber richtig versteht, wird erkennen, dass es keinesfalls Ziel der Autoren ist, alle Menschen weltweit für das Leben in einer Stadt zu begeistern. Sie reagieren lediglich auf einen deutlich erkennbaren Trend und die sich daraus ergebenen Herausforderungen. Die Menschen zieht es aus verschiedenen Gründen in die Städte, sei es die Suche nach qualifizierter und gut bezahlter Arbeit, die im ländlichen Raum rar wird oder es das farbenfrohe Leben in der Metropole. Somit stellen die Autoren erst einmal fest, dass die Metropolen wachsen werden.

Nur dann, wenn diese Tatsache ignoriert würde und sich niemand auf die kommenden Anforderungen in der Mobilität, der Wohnraumbereitstellung und in der Ver- und Endsorgung einrichten würde, müsste diese Entwicklung zwangsweise in ein Horrorszenario aus chaotischen sozialen, infrastrukturellen und organisatorischen Zuständen führen. Die Autoren führen dem Leser vor Augen, welche Konsequenzen Fehler in der modernen Stadtplanung haben werden. Sie stellen Lösungsvorschläge vor, die nicht aus der Idee heraus geboren wurden, sondern in den einzelnen Instituten der Fraunhofer Gesellschaft Gegenstand ernsthafter Forschungen sind.

Ziel der Forschungen ist es, in den erwarteten Entwicklungen der Megacitys von morgen die Lebensqualität der Menschen zu bewahren, jedem Menschen eine Chance zur individuellen Selbstverwirklichung zu bieten und darüber hinaus, die Sicherheit der Menschen und Infrastrukturen zu gewährleisten. Ebenso haben die Forscher die Nachhaltigkeit in der Nutzung der begrenzt verfügbaren Ressourcen fest im Blick, ohne die in den kommenden Jahrzehnten weder die Versorgung der Menschen mit Nahrungsmitteln und Wasser noch mit ausreichender Energie gewährleistet werden kann.

Fazit

Die Autoren rufen weder zur Landflucht auf noch versuchen sie, Begeisterung für immer enger zusammen wachsende Ballungsgebiete zu wecken. Sie führen vor Augen, wie sich die Situation zwangsweise entwickeln wird und bieten sehr differenzierte Lösungsansätze, über die man konstruktiv diskutieren darf und auch muss. Vor allem aber bietet dieses gelungene Werk dem Leser die Möglichkeit, sich die Morgenstadt im Detail bildlich vorzustellen und auch aus den Entwicklungen – beispielsweise in Dubai, Katar und in China – zu lernen. Jeder kann an der Entwicklung aktiv teilhaben, sei es mit einem Beitrag in der technischen Gestaltung der Morgenstadt oder schlicht und einfach in der Toleranz dem Individuum gegenüber. Denn eines steht fest: In der Morgenstadt wird es mehr als eine Kultur und mehr als einen sozialen Status geben und doch wird alles harmonisch miteinander koexistieren müssen.

  • Bullinger/Röthlein, Morgenstadt
  • Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG, 2012
  • 286 Seiten
  • ISBN: 978-3446432031

(rs/01-2016)